Wenn wir über den Tod sprachen, und über Gott, war Sergiy immer überzeugt, ihm könne nichts geschehen: “Ich war schon tot. Minutenlang, die Nabelschnur um meinen Hals verschlungen. Die Ärzte hatten längst aufgegeben. Bis mein Vater mich ins Leben zurückschüttelte. Meine Zeit war noch nicht gekommen”.
Dieser Tage nun – 35 Jahre später – war Sergiys Zeit gekommen. Nach monatelangem, schwerem Kampf mit seinen neuen Stammzellen. Die eigenen Antikörper besiegten ihn.
Ich lernte Sergiy während meiner ersten stationären Zeit kennen. Ich erinnere nicht mehr wann genau. Vielleicht im Januar/Februar.
Auch die Zimmernummer ist mir entfallen. Vielleicht die 23. Zuviele Zimmer habe ich inzwischen gesehen. Alle gleich, manchmal spiegelverkehrt. Alle grün. Mit dunklem Holz. 80er Jahre Billighotel-Ambiente, wie ich es imaginierte. Erdrückend.
Unwürdig uns Krebspatienten, die – wie wir uns einig waren – gesunden wollten, in heller, positiver, freundlicher Atmosphäre. Nicht innerhalb dieser Sarg-ähnlichen Farb- und Materialdramaturgie.
Früh drehte ich mein Bett um 90Grad, um mehr Raum für Gedanken zu schaffen. So, dass wir in guten Zeiten unsere Zelle schnellen Schrittes und Wortes durchmessen konnte. Ersteres zum Training, Papillon-gleich. Wie ein leidenschaftlich der Realität entrückter dozierender, diskutierender Professor, im besten Sinne.
Von seinen Überzeugungen sprach er. Vom Gestern. Kiew. Dem Studium. Den Turmspringer-Erfolgen und entsprechenden blauen Flecken. Von Tschernobyl. Der Nabelschnur um den Hals eines ganzen Landstriches, wie ich es formulierte, um die Umstände seiner Geburt wissend. Vom Heute. Seinen knapp 5.000 Büchern. Seinem zu Hause. Das er liebte. Von seiner Familie.
Wir sprachen von morgens 0721 bis nachts 0130. Nur unterbrochen von den viel zu frühen Mahlzeiten, den Infusionswechseln, den Visiten, Therapie-Diskussionen, Blutentnahmen, Besuchen unserer Nächsten. Unterbrochen auch – mindestens eine Woche – vom immer wieder liebevollen Kümmern um das Geburtstagsgeschenk für seine Älteste. Ihr erstes rosafarbenes Netbook. Unbeschwerte Zeiten. Trotz des buchstäblichen Elends um uns herum. Kleine Fluchten.
Oft waren wir aufs Tiefste überzeugt, die einzigen dort zu sein, die gesund sind, fehldiagnostiziert und schnell wieder im normalen Leben.
Sprachen über Tagesaktualitäten wie Lance Armstrong. Das Wetter. Sergiys Job und meine Freiheit. Grundsätzliches.
Sprachen über uns und die Welt. So dass wir uns nach wenigen Tagen kannten wie seit Geburt. Oder kurz davor.
Sergiy beeindruckte mich mit jedem Tage, den wir zusammen verbrachten, mehr. Zu ähnlich waren wir und einander zu sehr ergänzend. Seine schwere, fast russische Seele sprach dabei von Schicksal. Mein leichtes, niederrheinisches Herz bescheiden von Glück. Beeindruckte mich mit Wissen. Und Weisheit. Mit Wut und Konsequenz. Mit Realitätssinn und visionärem Denken. Mit Empathie und gesundem Egoismus.
Die tagesgeschäftlichen Ereignisse auf der Krebsstation schließlich brachten uns zu nahezu identischen Erkenntnissen und zu ziehenden Konsequenzen:
Sergiy schwor sich lächelnd, gewänne er im Lotto, er würde diesen Laden von Grund auf renovieren lassen. Ich wollte Körper und Geist zur Therapie im engeren Sinne hinzuaddieren.
Wir entschieden gemeinsam, wir würden nicht über dieses 200-Millionen-Euro-Grab unserem Zimmerfenster vis-a-vis schreiben. Ich nicht in meinem Internet. Er nicht im Geheimen. Das täte den Engagierten nur weh, und den anderen war es eh egal.
Aber eine Summe stand damit herausfordernd im Raume! Eine Summe, die interessanterweise gleichzeitig in den letzten Jahren vom guten Lance so ungefähr gesammelt worden war. Ein Zeichen. 200 Millionen.
Armstrong verdammten wir. Er passte so gar nicht in unsere Welt. Wie übrigens auch all die Landes- und Bundespolitiker nicht, die immer noch nicht verstanden, dass Gesundheit, Medizin und Therapie ganzheitlich verstanden werden und vom Einzelmenschen ausgehen müssen.
200 Millionen. Wow. Auch wir wollten etwas tun. So konnte es nicht weitergehen. Und es wäre so simpel, denn durch diese effizient-abstrakt makro-statistische Denke lag einfach alles im argen. Nur nicht das Engagement der Menschen um uns herum.
Das System aber, praktiziert wie eine unendlich rationalisierbare Fabrik, “dieses System behandelt Krankheiten – nicht Menschen” wie Sergiy sagte.
Auch wir wollten etwas tun. Wenn wir überlebten. Und damals waren wir so sicher. So verdammt sicher.
Todsicher.
Seit Februar habe ich Sergiy nicht mehr wirklich gesehen. Einmal noch. In der Hämatologischen Ambulanz. Anfang Juli. Ein paar Tage vor meiner eigenen Transplantation. Ein Schatten seiner selbst. Abgemagert. Eingefallen. Aber den Schalk noch in Augen und Nacken wie eh. Da war noch genug Leben in ihm. Todsicher.
Wenige Tage später begann sein letzter, langer Kampf.
Vorige Woche schlief Sergiy friedlich ein.
Ich werde ihn nie vergessen.