R101 – Lost in Transition

“Versuchen Sie erst garnicht, darüber nachzudenken”, riet man mir an jeder Klinikecke und überflüssigerweise. Es gibt keine Antworten auf das ‘Warum gerade ich?’ oder auf das ‘Woher kommt der Krebs?’, auf das ‘Was habe ich bloß falsch gemacht?’. Das wusste ich selbst. Auch wenn dies nicht die ganze Antwort war.

Denn natürlich wissen wir, woher der Krebs kommt. Wir wollen es nur nicht wahrhaben, zu kostspielig wären die Konsequenzen für die Aktionäre des Todes, die Erfolg/Reichen auf Kosten aller anderen. Zuviele Arbeitsplätze allüberall hängen daran, so dass wir uns lieber ohne Unterlass krebserregendes Material in die Haare applizieren, unter die Achseln, in den Schlund, in unsere Kleiderschränke, Autos und Wohnungen. Auf die Zähne, in die Lungen, um die Augen, auf die Haut. Verdrängen, priorisieren, tabuisieren. Alter, Krankheit, Krebs und Tod.

Aber was juckte mich das noch? Zu 50% war ich inzwischen wieder ‘geheilt’. Die Lübecker Referenzklinik erhöhte die Düsseldorfer 0,5%-Wahrscheinlichkeit einer Medikamentenallergie auf satte 50%. Ab nach Hause, hieß es schon am nächsten Tag.

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Aber der Reihe nach: auf Basis der Diagnose auf die Krebsstation. Das Aufnahmegespräch mit dem jungen Ärzteteam am späten Abend war ebenso cool. Sie zogen sich Stühle heran und klärten mich auf über meine 99,5% Krebs.

Es war eher ein Briefing, ein Kreativgespräch über die Vorgehensweise, das Strategiemeeting zu einem Pitch. Eine gute, vertrauensvolle, kreative Atmosphäre, erzeugt von Menschen, die wussten, was sie sagten. Ich fühlte mich direkt zu Hause.

Umso schlimmer, dass man mich am nächsten Morgen den heilenden Händen dieses Teams wieder entreissen wollte, um mich somewhere over the rainbow in ein Privatpatientenzimmer zu verlegen. Da gäbe es auch ein Buffet.

“Hm”, bemerkte ich, “ich sterbe, ich bin wg der Ärzte hier – nicht wg des Buffets”. Ich blieb bei den coolen Ärztïnnen und Pflegerïnnen. Diese Erste Klasse konnte mich mal.

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Cortison verstärkt den eigenen Charakter, manche werden depressiv, einige agressiv. Ich wurde redselig, lustig, kommunikativ, aufgedreht. Genau, was eine Krebsstation braucht, oder? Aber kann man darauf Rücksicht nehmen!?

Die viertägige Hochdosis-Cortison-Therapie jedenfalls liess meine Lymphknoten auf ein gesundes Maß schrumpfen. Wenn auch die Thrombozyten am Boden blieben.

Der genialen Idee des Oberarztes, nochmals meine Leber zu checken, verdankte ich schließlich die Heilung meiner (vermeintlichen) Leberzirrhose.

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Also ab nach Hause. Das Damokles-Schwert des vielleicht 100%igen Krebses immer über meinem Köpfchen. Irgendwie verloren im Übergang zwischen Leben und Tod, unbeschwerter Freiheit und chemotherapeutischer Gefangenschaft.