Realitätsentzug > Organisationen konstruieren ihre eigene Realität

Im März 2010 schrieb ich an dieser Stelle den Post ‘Was tun bei aktivem und passivem Realitätsentzug im Management?’.
Letzte Woche rief mich dazu das österreichische Wirtschaftsblatt in Person Robert Prazaks an und stellte mir im Zuge der Entstehung eines ähnlichen Artikels (Manager, gefangen in ihrer Scheinwelt) ein paar Fragen. Hier Auszüge des Ergebnisses:

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Aber nicht nur im Großen – also im “System” – passiert Selbstbetrug: In vielen Unternehmen gibt es Manager, die die Wahrheit nicht wahrhaben wollen; unter anderem weil sie sich nur mit “Ja-Sagern” umgeben. Oder weil sie wie der Frosch im berühmten Kochwasser-Gleichnis nicht mitbekommen, wie sich ihre Umgebung verändert: Wirft man einen Frosch in kochendes Wasser, springt er sofort heraus. Wirft man ihn in lauwarmes Wasser, das man nur langsam erhitzt, bleibt er angeblich sitzen, bis er gekocht ist. Anders gesagt: Oft passieren Änderungen im Unternehmen so langsam, dass Führungskräfte und Mitarbeiter gar nicht mitkriegen, wie die Realität aussieht.

Der deutsche Unternehmensberater Ralf Schwartz beschäftigt sich seit Längerem mit Realitätsentzug – und sieht darin den Unterschied zwischen Management und Leadership: “Heute brauche ich keine Manager des klassischen Stils, denn die Leute haben mehr Selbstverantwortung.”

Unverwundbarkeit?

Erich Kirchler, Vizedekan an der Fakultät für Psychologie der Uni Wien, sagt: “In komplexen Situationen und wenn es gilt, riskante Entscheidungen zu treffen, neigen die Menschen dazu, sich sehr auf ihre Erfahrung und oft auf ihre Gefühle und Intuition zu verlassen – das gilt in der Politik ebenso wie im Management.” Erfahrung ist gut, kann aber auch die “Illusion der Unverwundbarkeit”, Überoptimismus und Kontrollillusion stärken, was manchmal in die Irre führt. “Allzu leicht glauben Experten und Expertenteams, sie seien unverletzlich und unterlassen es, die Qualität ihrer Entscheidungen zu hinterfragen.”

Das Problem wird auch am Mittelmanagement festgemacht. Schwartz: “Speziell das Management unter der Top-Ebene traut sich nicht, die Wahrheit zu sagen.” Gerade das wäre aber die Aufgabe der zweiten Ebene. Auch Gerhard Speckbacher weiß: “Dass es in Unternehmen viel schwieriger ist, mit unangenehmen Wahrheiten beim Top-Management Gehör zu finden als mit Erfolgsmeldungen, ist eine alte Erkenntnis der Unternehmensführung.”

Mit Dank an Robert Prazak.

Meine Überschrift ist Gerhard Speckbachers ‘Thesen’, ebd. entnommen. Er ist Vorstand des Instituts für Unternehmensführung der WU Wien.