Mein Krebs, Lawrence von Arabien, und die Osterente – Repost zum 10-Jährigen meiner Stammzelltransplantation

Ostern. Die Krebsstation ist unterbesetzt. Jetzt bloß keine Komplikationen, während bereits ein anderer stirbt. Beide können nicht gerettet werden.
So spart die Regierung in der Kranken- und der Rentenkasse.

“Ente mit Rotkohl und Knödeln” tröstet da über manchen Verlust von Leben hinweg. Es darf einem nichts ausmachen.

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Ostern vor inzwischen 10 Jahren war ich im Zelltief, einer Zeitspanne von fünf bis sechs Tagen, in der alles möglich ist. Die Chemo zerstört parallel zum Krebs auch viele andere schnellwachsende Zellen. Mundschleimhaut, Darm, Magen. Collaterals. Haare. Fingernägel. Alles Schnellwachsende wird im Wachstum gestoppt. Das ist zumindest die euphemistische Idee.

Den Bach runter geht auch das eigene Immunsystem. Für ein paar Tage jedenfalls. Dann berappelt es sich wieder, dann dürfen Besucher wieder ohne Mundschutz, Handschuhe und Körperkittel zu dir. Dann darfst auch du das Zimmer wieder ohne diesen Krempel verlassen. Oder eben nicht.

Den Bach hoch springen nur die Lachse, die stark genug sind, die vorher trainierten, die dem Bären Krebs und seinen tödlichen Pranken ein Schnippchen schlagen.

Den Bach runter gehen all die, die Angst vor Injektionen, Infusionen und Schmerzen haben, die ÄrztInnen nicht vertrauen, die sich nicht an die Regeln der Prophylaxe halten, die so sehr von sich überzeugt sind, dass sie Fehler machen. Flüchtigkeitsfehler – die weder der Krebs noch die Therapie verzeihen.

Den Bach hoch springen nur die Läufer, die geistig und körperlich Beweglichen. All die Harten, die es mit Lawrence von Arabien halten, der ein brennendes Streichholz mit bloßen Fingern ausdrückt: ‘Das muss doch furchtbar weh tun.’ – ‘Ja.’ – ‘Da muss doch ein Trick dabei sein.’ – ‘Ja: Es darf einem nichts ausmachen’. Mental Coaching halt.

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Statt mir einen Port in die Brust, direkt über dem Herzen, bei Vollnarkose einpflanzen zu lassen, entscheide ich mich für einen Katheder in der Halsschlagader.

Drei dünne Drahtschläuche werden durch die rechte Halsschlagader, an der Lunge vorbei, links rüber zum Herzen geschoben, dann am Hals mit zwei Stichen angenäht. Im Bette wird man zum Röntgencheck gefahren, ob die kleine OP vielleicht die obere Lunge perforiert hat. ‘Hat sie nicht, sonst würden Sie pfeifen beim Atmen’, erklärt man mir beruhigenderweise.

Weniger beruhigend: in der Bettenschlange vor dem Röntgen wartend, fühle ich eine warme Flüssigkeit an meinem Halse herunterlaufen. Hallo Halsschlagader, jetzt nicht schlapp machen. Hallo Herz, jetzt langsamer pumpen. Laaangsamer, nicht schneller. Hallo Pfleger, können se ma gucken? – “Mein Gott, Sie bluten aus dem Hals!”.

Während man beim ersten Mal noch voller Todesahnung nach Hilfe ruft, bittet man beim zweiten Male, nur wenige Wochen später, locker darum, das Kopfende hochzustellen, damit das Blut nicht aus dem Halse läuft.

Das scheint der ganze Trick zu sein: es darf einem nichts ausmachen.

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Hier findet Ihr weitere Abenteuer und Gedanken, die ich unter ‘Rumkrebsen mit Ralf’ als eine Art Mini-Poesiealbum/Tagebuch während und nach meinen 8 Monaten auf der Krebsstation notierte.

Oder lest meine damalige Kolumne ‘Berühmte letzte Worte’ (Wie kam ich bloß auf diesen Titel?) in der Wirtschaftswoche – einerseits zum Thema Krebs,
Der Krebs als Lebenscoach
Krebs! Wenn Manager zu Memmen werden
Was Guido Westerwelle von Marina Abramovic lernen kann,
vor allem jedoch zu Unternehmen, Marken, Managern, Führungskräften, Politikern.